Innenschau

 

Wahre Gesichter – Gesichter aus dem Unbekannten
von Cornelia Kleÿboldt, M.A.

Draw with no particular inten–tion, scribble mechanically, nearly always there appear faces on the paper. …
As soon as I take up a pencil, a brush, there come to me on the paper one after the other ten, fifteen, twenty of them. And wild most of them.
Are all these faces me? Are they others?
From what depths have they come? Faces of lost souls, of criminals
sometimes, neither known nor
absolutely unfamiliar either…
Faces that will keep on reappearing right up to the end. …“

Henri Michaux, in: „Henri Michaux.“
Ausstellungskatalog der
Solomon R. Guggenheim Foundation, 1978

„Wenn ich ohne eine bestimmte Absicht zeichne, mechanisch vor mich hin kritzele, erscheinen fast immer Gesichter auf dem Papier. … Sobald ich einen Stift oder einen Pinsel in die Hand nehme, kommt einer nach den anderen zehn, fünfzehn oder zwanzig von ihnen. Und die meisten sind wild.
Sind all diese Gesichter „ich“?
Oder sind es andere?
Aus welchen Tiefen sind sie gekommen? … Gesichter verlorener Seelen, manchmal von Kriminellen, weder bekannt, noch so ganz unbekannt … Gesichter, die nicht aufhören, immer wieder aufzutauchen…“
Henri Michaux

Das diesem Text vorangestellte Zitat stammt von Henri Michaux (geb. 1899 in Namur, Belgien, gest. 1984 in Paris) einem französisch–sprachigen Maler und Dichter, der zum einen als Autodidakt, zum anderen als einer der großen Einzelgänger in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen ist.

True Faces – Faces from the unknown:
Es ist, als würde in den englischen Worten „true“ und „unknown“ das Wahre, Unbewusste, Unbekannte und gleichzeitig das irgendwie Vertraute des Raumes, aus dem die gemalten Gesichter und Köpfe von Erich Schrall stammen, mitschwingen. In „faces“ steckt – neben der Übersetzung „Gesicht“ – das Wort „Facetten“, als ein Hinweis auf die Mehrdeutigkeit der Gesichter und Köpfe, die im vorliegenden Katalog abgebildet sind.

Nicht nur, dass manche Tusche- bzw. Zeichnungsstrukturen in den Arbeiten von Erich Schrall an die von Henri Michaux erinnern, auch dessen Worte zu seinen gezeichneten Gesichtern und Köpfen, die sein ganzes Leben lang, immer wieder vollkommen absichtslos auf seinen Papieren erschienen, hätten die von Erich Schrall sein können.

Die neuesten Gemälde und Papierarbeiten von Erich Schrall zeigen namenlose Köpfe, Gesichter und Porträts. Gesichter, die aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt, mehrdeutig, facettenreich, vielschichtig oder janusköpfig etwas ausdrücken. Lässt man sich auf die Betrachtung eines einzelnen Gesichtes ein, gibt es neben dem zentralen Gesichtsausdruck „Nebenschauplätze“ zu entdecken. Doppelköpfe, Totenköpfe, Tiermasken oder weitere Gesichter können in die Gesamtkomposition mit einbegriffen sein.

Es sind Köpfe und Gesichter, die die Energie und die Bewegungen des Malers in Tuschestrichen, Pinselhieben und Aquarellwischern auffangen, binden und extrem verdichten. Wie hauchdünne Gespinste liegen sie auf dem Papiergrund auf oder schauen, körperhaft geworden, aus dem Leinwandgrund hinaus.

Aus den kompakten Figuren früherer Arbeiten sind nun also Figura–tionen geworden, die sich aus fliegenden Strichen lose zusammensetzen; flüchtige Erscheinungen, die aussehen, als könnten sie sich jederzeit auflösen und wieder neu zusammenfinden. Sie befinden sich vor dem Malgrund wie vor einem Bühnenhintergrund, und sie wirken als Form gewordene Mittler zwischen der „Welt“ und dem Gesichtsfeld des Betrachters und jenem unsichtbaren, inneren Raum, dem sie der Künstler entnommen hat.

Vielleicht könnte man bei Erich Schralls Mal- und Zeichenhandlungen, bei diesem Tanz vor und auf der „Auffangfläche“, dem Papier oder der Leinwand, auch von energetischen Entladungen sprechen. Doch sind diese Entladungen alles andere als chaotisch oder ungeordnet: Sie sind zwar aus absichtslosen Handlungs- bzw. Bewegungsstrukturen erzeugt, sind aber im Resultat abbildender Natur und haben somit buchstäblich jeweils ein „Gesicht“, ein Aussehen, das bis in haarfeine Details präzisiert und charakterisiert wird.

Körper und Köpfe, Gesichter und Porträts sind in vielen darstellenden Traditionen der Ursprung aller Bilder. Hier sei an die „Ikonen“ erinnert, die als unmittelbare Vergegenwärtigungen jener Heiligen gelten, die sie darstellen, an das „Vera Ikon“, das „wahre Bild“, das die Menschen im Abdruck des Gesichtes Jesu auf dem „Schweisstuch der Hl. Veronika“ erblickten oder an das Turiner Grabtuch, welches im Abdruck die Gestalt, das Aussehen und das Bild des Gekreuzigten bewahrt. Diese Bilder, auch „Acheiropoieta“ genannt, sind Bilder, die als „Gottes Geschenk“ nicht von Menschenhänden gemacht sind.

Auch die Köpfe, Gesichter und Porträts von Erich Schrall sind erfüllt von einer Ausdruckskraft und Wahrhaftigkeit, die man nicht „machen“ kann. Es ist, als hätte der Maler sie geschehen lassen.

Der Inhalt seiner Darstellungen befindet sich ausserhalb jedweder ikonographischen Tradition. Man weiss nicht, wen diese Gesichter darstellen und woher sie kommen. Aber der Betrachter ist berührt und betroffen von dem, was sie darstellen und ausdrücken: Zuständlichkeiten und Gefühlsausdrücke, so wie sie sich auf Gesichtern zeigen.

Die dargestellten Gesichter sind vorwiegend männlich und befinden sich in der zweiten Lebenshälfte. Nicht ihr Alter ist entscheidend, sondern ihre Zeichnung, ihr Gesichtsausdruck, ihr Ausdrücken. Oft ist das Gerippe, in das ihr Ausdruck hineingehängt ist, schwarz. Rot und grau sind Tränen und Verlaufsspuren. Transparent und farbig sind die Haut und der Bildgrund.

Erich Schralls Köpfe entwickeln sich von anfänglichen, flächig aufgefassten Zeichnungen auf grossformatigem Papier wieder zum Leinwandgegenstand. Mehr und mehr entfalten sie sich in den Leinwandgrund hinein und begreifen seine Oberfläche als ihre Haut. In hauchdünnen, aquarellierenden Farbschichten nehmen sie Verbindung zu Tiefe und Räumlichkeit auf und gewinnen zunehmend an Körperlichkeit. Sie kreieren und beanspruchen, erfüllen den Raum mit ihrer Ausdruckskraft.

Und es ist erstaunlich, wie sich aus wilden Pinselhieben, aus ungezügelten, züngelnden Schraffuren, aus einer ablesbaren, hohen Geschwindigkeit, wie sich aus deren Ungestüm hinweisende und darstellende Strukturen herausbilden. Wie aus absichtslosem Tun, aus dem Befolgen von Bewegungsimpulsen, aus der Summe dieser Bewegungen und Handlungen, Gesichter auftauchen. Wie aus einer Technik, die nicht auf Abbildung zielt, Konkretes entsteht und sich Abgebildetes ausdrückt.

Es sind Gesichter, die Anteil nehmen am Gesicht des Menschen. Sie kennen das menschliche Gesicht und sie können vom Betrachter als solche gelesen werden. Doch sind es keine anatomischen Abbildungen. Im Gegenteil, die Loslösung aus anatomischer Richtigkeit, ermöglicht die Aufladung dieser Gesichter z.B. mit Tiergesichtern, mit Nebengesichtern, mit Öffnungen auf einen nicht genauer bezeichneten Raum und mit seelischer Ausdruckskraft, sofern man die Seele als all das begreifen möchte, was sich durch die körperlichen Gegebenheiten eines Menschen aus–drücken kann.

Und Menschen können diese seelische Ausdrucksqualität nicht nur auf den Gesichtern und im Körper ihrer Mitmenschen ablesen und fühlen, sondern sie können sie auch auf Bildern erkennen und dort ebenso nachfühlen, entziffern und mit Anteilnahme erfüllen.

Und es ist, als wäre das Abgebildete mit im Spiel, als wäre es Agent, Auftraggeber und zugleich die Energie, die diesen Auftrag erfüllt. Das Abgebildete will ausdrücken. Das Abgebildete ist die Sache selbst. Es ist kein Hinweis auf etwas anderes. Es ist, als wäre es schon vorher da, anwesend und als würde es sich des Malers bedienen.

Die Ausdrücke dieser Gesichter sind zwingend, sind dringend. Sie drücken mit weit aufgerissenen Mündern eine NotWendigkeit aus. Jenseits von anatomischen Regeln oder karikaturistischen Stilisierungen sind sie wesenhaft abgebildete Zustände.

Es ist, als hätten sie dem Maler keine Zeit gelassen, über sie nachzudenken. Sie sind reine Hervorbringungen. Und es ist, als würden sie sich aus Farbe und Struktur wie ein Filter vor ungetrübtes Licht, vor einen unbezeichneten, hell erleuchteten Raum schieben.

Sie haben etwas von Tonpapierlaternen, die aus ihren transparenten, farbigen Fenstern herausleuchten. Ohne eine innere Lichtquelle wären diese farbigen Fenster nicht zu sehen. Sie wären stumpf und grau.

Keines dieser Gesichter hört jemals mit dem Zustand auf, in dem es sich befindet. Jeder Schrei würde vorher verklingen. Und mit jedem Betrachter ereignet sich die Teilnahme an dem dargestellten Zustand neu.
Mit jedem der Gesichter ist jeweils „alles“ gesagt. Jedes der Gesichter behauptet Vollständigkeit. Es muss ihnen nichts mehr hinzugefügt werden.

Wie die früheren Arbeiten Erich Schralls haben auch diese Gesichter Anteil an elementaren Kräften. Es ist als wären Feuergesichter aus Feuer geboren und würden sich im Rauch abzeichnen. Mal zeichnen sie sich deutlicher ab, mal machen sie sich in graphischen Kürzeln bemerkbar, sind angedeutet und laden den Umraum mit Bedeutung und Zugehörigkeit auf. Sie sind vollständig in ihrem Ausdruck – sie geben alles.
Cornelia Kleÿboldt, M.A.

Kommentare sind geschlossen.